Mehr Demokratie wagen

Kommentar von Jens Reichenbach

Die Vertreterversammlung der Gartenstadt Hamburg am 30. Mai 2012 hat einige Eindrücke bei mir hinterlassen und Gedanken angeregt, die ich gern formulieren würde:

Zunächst möchte ich vorausschicken, dass ich in den letzten Jahrzehnten ein entspanntes Verhältnis zu dem Vorstand unserer Genossenschaft hatte und mit den Zielen und Ergebnissen überwiegend einverstanden war. Mein früher geringes Engagement in den genossenschaftlichen Gremien ist in dieser Zufriedenheit begründet.
Die günstige Nutzungsgebühr (Haushälfte mit Ofenheizung, ohne Küche, ohne Bad) gab mir einerseits die Möglichkeit nach Kassenlage zu investieren (Küche, Bad, Gasheizung, Fenster, Garage) und andererseits schwierige Phasen der Arbeitslosigkeit ohne Existenzbedrohung zu überstehen. Die Statuten der Genossenschaft, vor Allem die Weitergabemöglichkeit in der Familie, stellten eine ausreichende Investitionssicherheit dar.
Trotz der Tatsache, dass die meisten von der Gartenstadt beauftragten Handwerker, die in meinem Haus Arbeiten verrichtet haben, ihr Handwerk nicht verstanden (wenn es gut werden sollte, habe ich es eben selbst gemacht oder selbst vergeben), ist das Ergebnis und der Stil der Kommunikation mit der Gartenstadt früher immer akzeptabel gewesen.

Das ist nun leider alles anders.
Abriss- und Verdichtungspläne der Gartenstadtsiedlung untergraben die Investitionsbereitschaft. Nicht glaubhaft dementierte Gerüchte haben die gleiche Wirkung. Und die Kommunikation? Am 30. Mai erlebte ich eine unglaublich distanzierte Aufsichtsrats- und Vorstands-„Elite“, die ganz offensichtlich jede offene Diskussion mit der Basis der Genossenschaftsmitglieder vermeiden möchte.
Der Vorstand verteidigt offenbar lieber bereits gefällte Beschlüsse, als vorher eine ergebnisoffene Meinungsbildung zu fördern (siehe hierzu den Wortlaut der Begründung, mit der der Vorstand eine Teilnahme an der offenen Informationsveranstaltung am 11. Mai 2012 abgelehnt hat). Genau diese ergebnisoffene Meinungsbildung findet aber nur im offenen Diskurs statt und nicht in einer in enge zeitliche und formale Grenzen gepressten Fragestunde. Als Krönung der Absurdität habe ich es empfunden, als am 30. Mai eine Formaldiskussion geführt wurde, ob in einer Fragestunde auch ein nicht als Frage formulierter Satz zulässig sei.
Es sind Entwicklungen und Tendenzen wie diese, die einen großen Sozialdemokraten zu dem immer aktuellen Satz veranlasst haben: Mehr Demokratie wagen.
Ich wünsche mir, dass unser Vorstand und unser Aufsichtsrat mehr Demokratie wagt. Die Basis beißt nicht, sie will nur nicht überfahren werden.
Am 30. Mai wurde mehrfach durch den Vorstand betont, dass unsere Genossenschaft wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden muss. Das ist selbstverständlich nur teilweise korrekt. In Unternehmenszielen von Wirtschaftsunternehmen findet man üblicherweise keine Sätze wie „…Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung“, auch nicht sinnentsprechend umformuliert.
In einem entscheidenden Punkt halte ich aber den Vergleich unseres Genossenschaftsvorstands mit dem eines beliebigen Wirtschaftsunternehmens für statthaft: in der Frage der Zukunftsplanung. Herr Witt hat auf die Frage nach seinem Zukunftskonzept und wie er die Genossenschaft in fünf Jahren sieht, unumwunden zugegeben, dass er weder ein  Zukunftskonzept hat noch eine Vorstellung von der Genossenschaft in fünf Jahren.
Wie bitte?
Kein Vorstand eines Wirtschaftsunternehmens würde konzeptlos die Zukunft gestalten wollen, geschweige denn dies zugeben.
Ich bin sicher, dass sehr viele Mitglieder und unsere Vertreter sich gern an der Entwicklung eines von der breiten Mehrheit getragenen Zukunftskonzepts beteiligen würden. Das darf aber nicht übers Knie gebrochen werden, dafür brauchen wir Zeit und die Bereitschaft zum Dialog. Und wenn wir uns gemeinsam diese Zeit nehmen wird Herr Witt auf diese wichtige Frage auch befriedigend antworten können.

Jens Reichenbach

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